Die stereoskopische Raumwahrnehmung
Das Augenpaar
Die Abbildung zeigt ein Augenpaar aus der Sicht von oben. Die Augen lagern geschützt in der knöchernen Augenhöhle und der Tonenschen Kapsel und können sich wie Kugeln in einer Kugelpfanne bewegen. Je nach Aufgabenstellung unterscheiden wir gleichsinnige Augenbewegungen, die kontrolliert ausgeübt werden und gegensinnige Augenbewegungen (Konvergenz und Divergenzbewegungen), die unwillkürlich erfolgen.
Das normale beidäugige Sehen
Im Normalfall werden die Bilder beider Augen vom Sehzentrum zu einem Bild vereinigt. Es herrscht binokulares Einfachsehen. Wir haben den Eindruck, nur mit einem Auge ausgestattet zu sein, das sich etwa an der Nasenwurzel befindet (Zyklopenauge). Dieser Eindruck verschwindet sofort, wenn wir ein Auge schließen oder abdecken. Gemessen an dem “echten” Zyklopenauge aus der griechischen Mythologie, hat unser subjektives Zyklopenauge jedoch zwei zusätzliche Fähigkeiten:
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Unvollkommenheiten der Abbildung geringeren Grades in beiden Augen gleichen sich aus. Daher besitzen beide Augen gemeinsam vielfach eine höhere Sehschärfe als jedes einzelne Auge für sich.
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Das Augenpaar hat die Fähigkeit des räumlichen (stereoskopischen) Sehens. Das subjektiv empfundene Bild ist dreidimensional.
Das normale Doppelsehen
Machen Sie einen Versuch und halten Sie beide Zeigefinger senkrecht in einer Linie in unterschiedlicher Entfernung vor Ihre Augen. Sie sehen immer nur einen Finger scharf, während der andere Finger unscharf und doppelt erscheint, grad, auf welchen Finger Sie sich konzentrieren.
Es ist nicht möglich, gleichzeitig mehrere Objektpunkte binokular einfach zu sehen, die sich in erheblich verschiedener Entfernung vor dem Augenpaar befinden. Dass uns diese Tatsache im täglichen Leben meist nicht bewusst wird, liegt daran, dass wir unsere Aufmerksamkeit immer nur dem gerade angeblickten Objekt zuwenden und das doppelt gesehene nicht wahrnehmen. Dieses völlig normale Doppelsehen nennt man „physiologische Diplopie“.
Bedingungen für ein beidäugiges Einfachsehen
Damit es zur Verschmelzung der einzelnen Seheindrücke kommt, bedarf es einer äußerst fein abgestimmten Zusammenarbeit beider Augen, zumal gleichzeitig Blickbewegungen vollführt und verschieden weit entfernte Objekte fixiert werden müssen. Um ein einwandfreies binokulares Einfachsehen zu gewährleisten, müssen die folgenden Bedingungen von beiden Augen erfüllt werden:
Refraktionsgleichgewicht (auf beiden Augen annähernd gleiche Dioptrienwerte).
Die Bildgröße, Form und Farbe sollten deckungsgleich sein.
Die Sehachsen beider Augen müssen sich im angeblickten Objektpunkt treffen.
Die Bildqualität beider Augen muss prinzipiell gleichwertig sein.
Die Netzhäute und die Sehbahnen für beide Augen müssen voll funktionsfähig sein.
Das Sehzentrum muss in der Lage sein, Bilder, die in beiden Augen auf korrespondierende Netzhautstellen treffen, zu einem Einfachbild zu verschmelzen.
Die Stufen des beidäugigen Sehens
Ein ungestörtes binokulares Einfachsehen ist nur dann möglich, wenn alle aufgeführten Bedingungen erfüllt sind. Ist eine von ihnen unvollständig oder gar nicht erfüllt, so kommt es zu einem unvollkommenen Binokularsehen, wodurch die Leistungsfähigkeit des Auges beeinträchtigt wird. Die Qualität des beidäugigen Sehens kann also sehr unterschiedlich sein. Die Zuordnung erfolgt in fünf Stufen:
1. Monokulares Sehen
Es wird nur ein Auge zum Sehen benutzt. Das andere ist entweder blind oder wird vom Sehzentrum weitgehend ausgeschaltet, um unvereinbare Doppelbilder zu vermeiden. Dabei kann jedes Auge für sich durchaus voll funktionstüchtig sein.
2. Alternativsehen
Es werden zwar beide Augen zum Sehen benutzt, aber nicht gleichzeitig. Es liegt also kein Binokularsehen vor. Beide Augen teilen sich die Sehaufgaben. Typisch ist der Fall, dass ein Auge fast rechtsichtig ist und das andere Auge kurzsichtig ist.
3. Binokularsehen
Beide Augen werden gleichzeitig benutzt. Die Bilder beider Augen werden aber noch nicht zu einem Einfachbild vereinigt. Es liegt also Doppelsehen vor.
4. Fusion
Beide Seheindrücke werden zu einem Einfachbild verschmolzen. Vielfach besitzt aber ein Auge einen gewissen Vorrang, sodass die beiden Seheindrücke nicht ganz gleichwertig sind.
5. Stereoskopisches Sehen
Das ist die höchstentwickelte Form des Binokularsehens. Sie stellt den Idealfall dar, der stets anzustreben, aber nicht immer zu erreichen ist.
Stereotest
Der hier abgebildete „Polatest Berlin“ gilt als Klassiker unter den Stereotesten und dient in erster Linie dazu, einen groben Eindruck über das stereoskopische Sehen des Prüflings zu erhalten. Setzt auch nach einiger Zeit und nach einigen Erklärungen, worauf der Prüfling zu achten habe, keine stereoskopische Wahrnehmung ein, ist davon auszugehen, dass der Prüfling auch im normalen binokularen Sehen nicht stereoskopisch sieht.
Betrachtet man den Stereotest ohne Polarisationsfilter, so erkennt man jeweils zwei graue Dreiecke nebeneinander angeordnet einmal über dem schwarzen Punkt und einmal darunter. Der schwarze Punkt ist nicht polarisiert und wird von beiden Augen gleichzeitig gesehen.
Schalten wir nun einen Polarisationstrenner vor beide Augen, sieht jedes Auge für sich ein Dreieck oberhalb und unterhalb des Punktes, wie in der nachfolgenden Grafik ersichtlich.
Durch den Versatz der beiden Dreiecke um den gleichen Betrag nach rechts und links im Verhältnis zum Punkt, entstehen im Auge gekreuzt liegende Doppelbilder, die durch die einsetzende sensorische Fusion zu einem Einfachbild verschmolzen werden. Es entsteht der Seheindruck nach vorn. Der Prüfling sieht je ein Dreieck exakt oberhalb und unterhalb des zentralen Punktes, das etwa 1 m vor dem Bildschirm im Raum zu schweben scheint. Wendet man die Zuordnung der Polarisationstrenner, so ergeben sich im Auge gleichliegende Doppelbilder mit der Raumwahrnehmung nach hinten.
Auch wenn stereoskopisches Sehen vorhanden ist, kann es vorkommen, dass die Dreiecke nicht genau in der Mitte wahrgenommen werden. Das ist ein Zeichen dafür, dass eines der beiden Augen im Sehen dominiert. Dies sollte durch eine nochmalige sorgfältige Überprüfung der binokularen Korrektion für Abhilfe sorgen.
Ganz besonderen Wert wird auf die „Wendebefragung“ beim Stereotest gelegt. Damit ist gemeint, dass der Prüfling Gelegenheit bekommt, sich an den Test zu gewöhnen und einen ersten Eindruck von der Art der stereoskopischen Wahrnehmung zu gewinnen. Nun wird durch Wenden der Polarisationszuordnung geprüft, wie lange der Proband benötigt, bis er den Test wieder räumlich sieht.
Unverzögerte stereoskopische Wahrnehmung (die Dreiecke „springen“ unverzüglich in den Raum) deutet auf ein in jeder Hinsicht störungsfreies binokulares Sehen und damit auf eine völlig zufriedenstellende Korrektion hin.
Kommen die Dreiecke aber nach Freigabe des Bildes mehr oder weniger langsam aus der Testebene des Bildschirms herausgewandert, so ist es ein Zeichen dafür, dass irgendwelche binokularen Anomalien noch nicht hinreichend ausgeglichen sind. Unser Ziel bei jeder Augenuntersuchung ist immer eine unverzögerte stereoskopische Wahrnehmung zu erreichen.
Um noch exaktere Aussagen über die Qualität des stereoskopischen Sehens zu erlangen, benutzen wir Stereoteste mit deutlich kleineren Stereowinkeln als beim Polatest Berlin. Die zu beobachtende Auswanderung der Sehzeichern ist dann entsprechend geringer und stellt somit höhere Ansprüche an das Augenpaar. Der kleinste von unserem System erzeugte Stereowinkel beträgt eine halbe Winkelminute (1°= 60' Winkelminuten, 1'= 60" Winkelsekunden) also 30" Winkelsekunden. Die Grenze der wahrnehmbaren stereoskopischen Parallaxe liegt bei ca. 5"-10" Winkelsekunden. Wie ist es mit Ihrem Stereoauflösungsvermögen bestellt. Erreichen Sie den „Goldstandard“?